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Donnerstag, 18. April 2024
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Geschrieben von Halwart Schrader   

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Der amerikanische Millionär Charles Jasper Glidden bereiste 1902–1908 mit seinem Motorwagen 39 Länder und durchquerte mehr als 8.000 Städte. Er war der erste Automobil-Weltreisende.

Zu denen, die in der Disziplin der Ferntouristen im frühen 20. Jahrhundert Weltruhm erlangten, gehört der Amerikaner Charles Jasper Glidden, der 1901 eine Automobiltour von Massachusetts zum Polarkreis in Kanada unternahm und ein Jahr später am Lenkrad eines in England erworbenen Napier zu einer Weltreise aufbrach, die bis 1908 dauerte.

Der von der U.S. Army im Rang eines Colonel (Oberst) verabschiedete Gentleman, geboren am 29. August 1857, hatte wechselnde Begleiter an Bord, von denen einem die wichtige Funktion eines Mechanikers oblag. Die Firma Napier hatte diesen jungen Engländer namens Charles Thomas an Glidden »ausgeliehen«; er war am Bau des Fahrzeugs beteiligt gewesen und mit dessen Technik also bestens vertraut. Ein zweiter Passagier war zeitweilig Mrs. Lucy Emma Glidden. Eine Hochzeitsreise war es nicht; das Paar war bereits seit 19 Jahren verheiratet. Im Verlauf dieser etappenweise absolvierten Tour befuhren Glidden und seine Crew 39 Länder, legten 74.880 Kilometer zurück und besuchten mehr als 8.000 Städte.

Als erste Autotouristen durchquerten Glidden und seine Begleiter Länder wie Australien, Malaysia, China und Japan. Seine Europatour schloss eine Exkursion bis ins nördlichste Schweden ein, auf Straßen, die nur lose Schotterpisten darstellten. Und südlich des Äquators ließ er seinen Napier auch zur Fidschi-Insel Viti Levu transportieren, wo er sich mit dem Häuptling im Wagen fotografieren ließ. Glidden war der erste Automobilist, den die Insulaner zu Gesicht bekamen.


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Unzählige Male hörte Glidden die furchtsam bis drohend geäußerte Feststellung, dass es doch nicht mit rechten Dingen zugehen könne, dass sich ein Wagen ohne Zugtiere von der Stelle bewegte … Aber es überwogen Respekt und Bewunderung. In jenen Jahren sah man Automobile außerhalb europäischer und amerikanischer Städte noch selten. Nur in Frankreich hatten Motorwagen auch in der Provinz bereits eine etwas größere Verbreitung gefunden.

Die amerikanische Crew absolvierte die Reise in mehreren Etappen. Immer wieder lud Glidden Reporter zum Mitfahren ein. Im Sommer 1904 war er wieder einmal in seiner Heimat und nahm dort an der von der American Automobile Association (AAA) organisierten Zuverlässigkeitsfahrt von New York nach St. Louis teil. Er stiftete sogar einen Pokal und eine Prämie von 2.000 Dollar in bar – damals ein immenser Betrag – für den Sieger. Von 1905–1913 fand die daraufhin »Glidden Reliability Tour« genannte Fahrt in jedem Jahr statt. Den ersten Event gewann Percy Pierce auf einem Pierce Arrow. Von Jahr zu Jahr legte man die Streckenführung schwieriger aus. Ein Problem war das viele überfahrene Geflügel der Bauern, so dass Glidden den Behörden der passierten Landkreise aus eigener Tasche pauschalen Schadenersatz für das unbeabsichtigt gemeuchelte Federvieh bezahlte.

Von Gliddens in England gestarteter Weltreise existiert ein ausführlicher Bericht, eine Art Tagebuch. Der pensionierte Schullehrer Andrew M. Jepson, Enkel des Mechanikers Charles Thomas, hat es 2013 veröffentlicht und mit Fotos versehen, die sein Großvater unterwegs gemacht hat. Glidden schrieb: »Im November hatte ich beim Hersteller Napier in London einen viersitzigen Motorwagen mit vier Plätzen bestellt. Obwohl 24 PS stark, wurde er 16hp genannt« … Die 16 horsepower waren nicht eine zu bescheiden formulierte Leistungsangabe für den Vierzylindermotor, sondern stellten eine fiskalische Größe dar, unseren einstigen Steuer-PS entsprechend. Auf Gliddens Verlangen war der Napier mit einer größeren Spurweite versehen worden, die es erlaubte, auf Schienen fahren zu können; zu diesem Zweck führte man vier austauschbare Spezialfelgen mit. Denn es war damit zu rechnen, dass in entlegenen Regionen ein Vorankommen auf Eisenbahnstrecken leichter sein würde, als auf straßenlosem Terrain.

Glidden vermerkte: »Am 1. Juni (1902) war der Wagen fahrbereit. Da mein Bericht sich nicht so sehr der Szenerie, den Landschaften oder der Historie besichtigter Kathedralen widmet, sondern dem Motorwagen und dem Verlauf der Reise, erwähne ich, dass jener über zwei wirkungsvolle Bremsen verfügte, mit denen man auch am steilsten Gefälle das Fahrzeug jederzeit anhalten konnte, ferner über ein elektrisches Zündsystem, das sich vom Sitz des Fahrers aus regulieren ließ, und ein per Hebel zu betätigendes Getriebe, um die Geschwindigkeiten zu regeln, von denen vier zur Verfügung standen. Der Inhalt des Kraftstofftanks reichte für eine Strecke von 200 Meilen, und das an Bord mitgeführte Schmieröl war für den Bedarf von zwei bis drei Monaten ausgelegt. Automatisch gelangte es an alle Stellen, wo es benötigt wurde …«


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Glidden ließ sich Zeit für den Start zur ganz großen Reise und erkundete erst einmal die Umgebung Londons, sozusagen zur Übung. Nicht vor dem 22. Juli 1902 ging es los. »Um 8:30 fuhren wir ab … wir stoppten in Canterbury, um dort unseren Lunch einzunehmen … insgesamt hatten wir auf englischem Boden 650 Meilen zurückgelegt, bevor wir in der Hafenstadt Folkestone eintrafen. Am Pier mussten wir enttäuscht feststellen, dass der Nachmittagsdampfer hinüber nach Frankreich unseren Wagen nicht an Bord nehmen konnte; die Reederei hatte verfügt, dass Automobile nur mit dem Vormittagsschiff befördert werden durften. So ließen wir den Napier in der Obhut unseres Mechanikers und unternahmen mit der Nachmittagsfähre einen Ausflug nach Boulogne, wo wir die Gelegenheit wahrnahmen, Vorkehrungen für das Entladen des Wagens am nächsten Tag zu treffen. Mit seinem Gewicht von 3.000 Pfund musste das Fahrzeug auf eine Plattform gefahren werden, die von einem Kran an Bord des Schiffs gehievt wurde, und bei der Ankunft in Boulogne wurde mit derselben Methode das Entladen vorgenommen.« Noch viele weitere Male wurde Gliddens Napier so über Seestrecken transportiert.

»Ernste Schwierigkeiten bereitete uns in Frankreich das Entziffern von Wegweisern an den Straßengabelungen. Die Schrift auf den Schildern war so klein, dass man sie – ohne den Wagen anzuhalten – meist nicht lesen konnte. Oftmals fehlten Schilder gänzlich, und wir mussten uns von Dorf zu Dorf durchfragen. In den Städten waren wenigstens Straßenkarten erhältlich …«

»Mittwoch Morgen verließen wir Montreuil-sur-Mer in Richtung Dieppe, und es gab heftigen Regen. Er war so stark, dass unsere Gummi-Umhänge kaum etwas nützten und unsere Kleidung total durchnässt wurde …«

 Sämtliche Distanzen und auch kleine Ereignisse wurden minutiös notiert: »Als wir in Frankreich unterwegs waren, stellten wir fest, dass die Schafe auf den Landstraßen besser erzogen waren als die in England. Sie gehorchten den Kommandos der Schäfer und deren Hunden ohne Verzug, wenn wir uns näherten, und gaben die Straße frei … Nirgendwo sahen wir Zäune, das Land schien uns ein einziger, großer Park zu sein, mit Obstplantagen zwischendrin, Wiesen und Getreidefeldern. Und so populär war das Automobil hier bereits, dass man so gut wie in jeder Stadt Benzin kaufen konnte, und die Hotels auf unserer Strecke hielten sämtlich Vorräte an Öl bereit und verfügten über geräumige Remisen zum Abstellen von Fahrzeugen über Nacht …«


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6.775 Meilen (fast 11.000 Kilometer) legte der Napier dort, wo es keine Straßen über Land gab, auf Eisenbahnschienen zurück: »Wir wurden stets als Sonderzug eingestuft und mussten uns an bestimmte Fahrpläne halten … Es war wundervoll, auf diese entspannte Art und Weise exotische Landschaften zu genießen und ausgeruht am Ziel einzutreffen … «

Charles Jasper Glidden engagierte sich auch intensiv im noch jungen Flugwesen. Der Colonel amtierte viele Jahre als Executive Secretary im World’s Board of Aeronautical Commissioners und organisierte nach dem Ersten Weltkrieg die erste Flieger-Rallye rund um den Globus. 1921 wurde er zum Präsidenten der Kommission gewählt. Es heißt, er habe die Bedeutung der Fliegerei in naher Zukunft schon früh erkannt und gesagt, dass »eine Flugreise schon bald für Jedermann so selbstverständlich sein wird, wie die Benutzung eines Motorrades.«

Glidden war durch innovative Aktivitäten in der frühen Telefonbranche Amerikas schon in jungen Jahren ein vermögender Mann geworden. Auf ihn geht die Einführung von Fernämtern zurück, in denen weibliche »operators« die Verbindungen herstellten. Der Multimillionär Gidden verstarb am 11. September 1927 in Boston; seine Frau Lucie überlebte ihn um vier Jahre.

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